Fehlendes Zentrum - fehlende Identität?

Was ist eigentlich das Zentrum von Kohlscheid? Welche Identität kann ein Ort ohne Mittelpunkt entwickeln?

"Kohlscheid, das sich aus historischer Sicht bis 1972 gegenüber den beiden anderen Orten (d.h. Herzogenrath und Merkstein) abschottet, stellt siedlungsgeschichtlich die dritte Form innerhalb Neu-Herzogenraths dar. ... Selbst diese relativ späten Pläne verdeutlichen zusammen mit weiteren Quellen die Eigenart Kohlscheids. Der ungünstige Standort schränkt die Vielzahl der Siedlungsmöglichkeiten ein. Einzelgehöfte und kleine Weiler sind die Elemente. Im Laufe der Zeit entwickeln sich einzelne, über das Gesamtgebiet verstreute und gegeneinander abgeschlossene Siedlungskerne. Die lockere Bebauung, die selbst kleinen Häuserkomplexen eigene Namen zuspricht, läßt kaum bauliche oder menschliche Kontakte zu.

In Ermangelung einer umfassenden Identifikation kommt es in vergangenen Zeiten sogar zu Rivalitäten zwischen den Jugendlichen der einzelnen Siedlungseinheiten.

Die Abgeschlossenheit der Siedlungszellen drückt sich nicht nur in der Distanz zur nächsten, sondern auch in der Anordnung innerhalb derselben aus. Die unregelmäßig angeordneten Wohnhäuser liegen nicht entlang der Straße, sondern abseits an einem Seitenweg und sind in vielen Fällen von Hof und Gartenflächen umgeben.

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Im zunehmenden Maße werden die Haupterschließungsstraßen (Südstr., Weststr., vormals Viehweg, Roermonderstr.) besiedelt. Man wird somit einer traditionellen Baustruktur untreu. ... Im Zuge der Ausbauphase gelingt es, die einzelnen Siedlungszellen zumindest teilweise miteinander zu verbinden, so daß sich ein langgestrecktes Straßendorf entwickelt.

Als Konsequenz faßt man alle Ortsteile unter einem gemeinsamen Namen zusammen. Doch die Namensgleichheit kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß Kohlscheid kein Zentrum hat. "

in: Kaymer, Renate: Herzogenrath. Die Baugeschichte von Burg und Stadt mit den eingemeindeten Orten Kohlscheid und Merkstein, S. 27 (veröffentlicht als Heimatblätter des Kreises Aachen, 39./40. Jg. 1983/1984)  

War es früher anders?

2016 beschrieb der Architekt Michael Heins in seinem offenen Brief zur Standortpositionierung für neue Einzelhandelsansiedlungen im Stadtteil Kohlscheid den Wandel des Zentrums:

Ich bin in Kohlscheid aufgewachsen, als es noch eine selbstständige Gemeinde war. Kohlscheid hatte ein intaktes Sozialleben und ein eindeutig definiertes und schönes Zentrum um den Markt. Doch im Laufe der Zeit, auch bedingt durch spätere Auswirkungen der kommunalen Neugliederung, hat sich die innerstädtische Situation im Zentrum verschlechtert. Es gab immer mehr Leerstand in den Geschäften, die bei den Eigentümern zu Mietausfällen führen mit der Folge, dass die finanziellen Mittel zur Erhaltung der Immobilien fehlen. Das Ergebnis sind erschreckend unansehnliche Gebäudezüge. ...
W
enn man durch das Zentrum flaniert, macht sich streckenweise eine ausgesprochen depressive Stimmung breit, umso mehr, wenn man - wie ich - das alte prosperierende Kohlscheid der sechziger bis achtziger Jahre kennt.